Jedermanns Lebenskrise und die Glorifizierung der Vergangenheit

January 2010

Es lässt sich nicht leugnen: Zu den jungen Menschen gehöre ich nicht mehr. Wie lange genau das schon so ist, kann ich nicht sagen, weil es mir erst vor ungefähr zwei Stunden aufgefallen ist. All die Anzeichen, die es schon seit längerer Zeit dafür gibt, wurden konsequent ignoriert und die Symptome, die sich nicht hätten leugnen lassen, wurden einfach vermieden. Alles total unbewusst natürlich. Zuallererst: übermäßiger Alkoholkonsum. Darunter habe ich vor ein paar Jahren noch etwas ganz anderes verstanden als heute. Heute kommt übermäßig schnell und hat einen längeren Filmriss zur Folge als noch vor einigen Jahren. Ich kann mich nicht erinnern, vor ein paar Jahren schon Filmrisse gehabt zu haben. Folglich waren sie also entweder extrem kurz oder tatsächlich nicht vorhanden. So jedenfalls meine Theorie zu diesem Thema. – Als nächstes: kürzer oder länger. Kürzer erschien noch vor einiger Zeit viel länger zu sein als jetzt. Und länger entsprach scheinbar einer Ewigkeit. Zeitverhältnisse, die zum jetzigen Zeitpunkt unvorstellbar erscheinen. Und schließlich: die Übermacht der positiven Erinnerungen durch die Selektion in der Speicherung der Gedanken. In der Erinnerung erscheint einem alles viel besser, einfacher, schöner, beeindruckender, fesselnder und was auch immer gewesen zu sein. Nur ganz entfernt beschleicht einen manchmal das Gefühl, dass es da auch noch was gab, was nicht ganz so super war. Peinliche Situationen, die einem inzwischen so lächerlich erscheinen, dass man sie schon mal als lustigen Schwank zur allgemeinen Erheiterung in irgendeine Gesprächsrunde wirft. Wahrscheinlich deshalb, weil man immer noch daran nagt, das Hirn aber einen geheimen Auftrag hat, alles als positiv abzuspeichern. Und genau deshalb kommt es eben dann zu dem Phänomen der Vergangenheitsglorifizierung.

Was mich übrigens auch in dieser Theorie des vorwiegenden Speicherns positiver Gedanken bestärkt ist das Phänomen des ewigen Fettnapfes. Es gibt Situationen, die man scheinbar tausend Mal erleben kann. Insgeheim weiß man auch im Voraus, dass sie nicht gut enden werden. Aber immer und immer wieder reißt man sich zusammen, nimmt Anlauf und landet dann mit voller Wucht in dem Fettnapf, der sich einem schon sein ganzes Leben lang immer wieder in den Weg stellt. – Jetzt weiß ich nicht, was schlimmer ist: dass einem nach der Bruchlandung für kurze Zeit die Bruchlandung davor wieder einfällt oder dass man scheinbar dazu geboren ist, Fehler zu wiederholen. Und zwar nur deshalb, weil das Hirn überwiegend positive Erinnerungen speichert. Das ist so tragisch, dass man davon depressiv werden könnte. Aber vergessen wir das.

show more Blog

3 Comments

  • roman says:

    vergessen wir das

  • simone says:

    Ja, vergessen wir das. Bis zur nächsten kurzzeitigen totalen Erinnerung…

  • kotikatik says:

    Vergangenheitsglorifizierung habe ich schon in der Grundschule kennengelernt. Der Anlass zu Nostalgie in der Schule war der Fakt dass ich als einziges Madl unter 12! Jungs im Kindergarten so richtig strahlenn durfte. Es war eine Einrichtung für Kinder mit Sprachstörungen. Stell es Dir vor, jeden Tag hinter der Veranda auf dem Spielplatz eine neue Hochzeit. Manchmal mit einem richtig gewaltigem Duell davor. Wegen unseren Stottereien waren die verbalen Auseinandersetzungen eher schwierig. Die Grundschule versetzte mich natürlich in einen ganz andren Film. Die Jungs waren da alles anderes als romantisch. Die Ursache war der Frauenoverkill. Dieser vernichtete in den kleinen Männchen jegliche Anfälligkeit für die weiblichen Charme und Schönheit. Es kam mir damals so vor als wäre der Höhepunkt meines Lebens unwiederruflich vorbei gewesen. Vielleicht objektiv gesehen war und ist dem auch so… Aber ist es nicht die Gesamtheit der Erinnerungen an der vergangenen Siege und Freude, die unsereses hier und jetzt bestimmen? Was ist einer wert, der nix zum Nachweinen hat? LG Katja.

Leave a Comment